Bedarfsgerechte Regelung dank fundiertem Mess- und Regelkonzept
Bei den meisten Messpunkten auf einer Kläranlage ist klar definiert, wozu der Messwert dient und welche Spezifikationen erfüllt werden müssen, um diese Aufgabe zu erfüllen. Die Deckung dieses Bedarfs ist das Kerngeschäft der Messtechniklieferanten. Es gibt aber auch Messpunkte wo niemand (auch nicht der Messtechniklieferant) wissen kann, welches Messgerät nun tatsächlich am besten geeignet ist und welche Spezifikationen im Detail erfüllt werden müssen, um einen stabilen Prozess sicherzustellen. Eine aussichtslose Situation? Nein, denn es gibt tatsächlich einen Ausweg aus diesem Dilemma: Ein schrittweises, interdisziplinäres Vorgehen, so wie es das Amt für Industrielle Betriebe (AIB) vorgemacht hat.
Können alle Kundenwünsche erfüllt werden?
Das AIB betreibt die Mehrheit der kommunalen Kläranlagen des Kantons Baselland und mit der ARA Birs die (noch) grösste SBR-Anlage der Schweiz (SBR = sequencing batch reactor). Das AIB hat mit Nicolas Stöcklin (Betriebsingenieur) eigene personelle Ressourcen um Prozessoptimierungen voranzutreiben und mit Markus Vock (Leiter der Prozessanalytik / Labor) einen sehr erfahrenen Mitarbeiter bezüglich Online-Analytik. Endress+Hauser hatte bereits in der Vergangenheit Tests in verschiedenen Anwendungen mit unterschiedlichen Messystemen gemeinsam mit dem AIB durchgeführt. Und ja: Nicht immer konnten wir die Wünsche des Kunden erfüllen. Denn der Umweltmarkt in der Schweiz ist sehr innovativ: Wir werden immer mal wieder mit neuen Applikationen konfrontiert, welche bei der Entwicklung der Geräte so noch nicht bekannt waren. Eine offene Kommunikation zwischen dem Lieferanten und dem Kunden ist darum von zentraler Bedeutung.
Messgeräte sind auch nur Menschen
Für Endress+Hauser ist es wichtig auf der Kundenseite kompetente Ansprechpartner gegenüber sitzen zu haben, welche sorgfältig und transparent mit der Messtechnik arbeiten. Denn die Geräte für die Online-Analyse sind letztlich auch nur Menschen: Erst ein reger Informationsfluss zwischen den Beteiligten erlaubt den Einsatz der Analyse-Sonden und Analysatoren hart an den Spezifikationsgrenzen, und manchmal sogar darüber hinaus. Dieser erfolgreiche Einsatz von komplexer Online-Analytik setzt immer einen interdisziplinären Ansatz voraus: Die Messtechnik darf nicht unabhängig von der Steuerungstechnik, der Verfahrenstechnik und den lokalen Gegebenheiten im Einzugsgebiet der Kläranlage (ARA) betrachtet werden. Zudem spielt auch der Wartungsaufwand eine entscheidende Rolle.
Wer weiss schon alles?
Dieses theoretische und praktische Wissen kann nicht von einer einzigen Person abgedeckt werden und ist nur in seltenen Fällen in einem Betrieb vollständig vorhanden. Teamarbeit über Firmengrenzen hinaus ist darum angesagt. Diese interdisziplinäre und schrittweise Herangehensweise benötigt etwas mehr Zeit in der Planung und Projektierung, doch wie das Beispiel des AIB zeigt lohnt sich der initiale Aufwand: Unvorhergesehene Kosten und Probleme halten sich bei einer Implementierung in engen Grenzen und der Nutzen der Massnahmen lässt sich früh abschätzen.
Theorie: Ein Messgerät für mehrere Parameter
SBR Anlagen lassen dem Betreiber grosse Freiheiten bezüglich Verfahrensführung, da die einzelnen Schritte zeitlich getrennt durchgeführt werden können. Und auch aus Sicht der Online-Analyse eröffnen sich interessante Perspektiven: Dasselbe Messgerät kann in mehreren Verfahrensschritten eingesetzt werden. Zudem liefert das Messgerät mindestens zwei Werte: Der Momentanwert und die Änderungsrate (zeitlicher Gradient). Mit einem einzigen Gerät können so theoretisch mehrere Prozess-Schritte gesteuert oder überwacht werden. Und der Gradient des Wertes lässt einen quantitativen Rückschluss auf weitere Parameter zu (sogenanntes Softsensing). So entfallen Kosten für die Anschaffung von weiteren Geräten, für die Halterungen, für die Einbindung der Messwerte in die Steuerung. Und es fallen weniger Wartungsarbeiten an.
Einfaches Regelkonzept mit klaren Grenzen
Die Überlegung des AIB: Künftig soll die Stickstoffelimination sowie das Nitrifikationsende auf der ARA Birs bedarfsgerecht mit einem zusätzlichen Sensor gesteuert werden. Die kontinuierliche Online-Messung der Nitratkonzentration im SBR ermöglicht die Berechnung des Gradienten und so die Steuerung zweier Prozesse mit einem Sensor:
- Vorgeschaltete Denitrifikation: Die Denitrifikation ist dann abgeschlossen, wenn die Nitratkonzentration nicht mehr weiter sinkt (Nitratgradient bewegt sich von negativ gegen Null).
- Nitrifikation: Sobald die Nitratkonzentration nicht mehr weiter zunimmt ist der Abbau von Ammonium abgeschlossen, die Belüftung wird ausgeschaltet und der nächste Prozessschritt folgt (Nitratgradient bewegt sich von positiv gegen Null)
Der Einfluss der Abwassermatrix auf die Messung
Aus messtechnischer Sicht bieten sich zwei Alternativen an: Die Nitratmessung mittels UV-Absorption (SAK214, optisch) oder mittels Ionenselektiver Elektroden (ISE, potentiometrisch).

Was als Konzept vielverspre-chend ausschaute, musste sich erst noch in der Praxis bewähren. Das AIB entschied sich die optische Sonde CAS51D Viomax von Endress+Hauser und die ISE eines Mitbewerbers zu testen.
Für die optische Messung ergeben sich aufgrund der Abwasserma-trix folgende Herausforderungen:
- Neben Nitrat absorbieren auch viele organische Stoffe (CSB) und weitere Stickstoffverbindungen (NOx) das UV-Licht nahe der Wellenlänge von 214nm
- Ungelöste Stoffe (TS) dämpfen je nach Grösse und Struktur der Schlammflocken das UV-Licht unterschiedlich stark, einen ähnlichen Störeffekt haben Luftblasen vor dem Messfenster
- Eine Verschmutzung der Messfenster führt ebenfalls zu einer Dämpfung des UV-Lichts
Elektronische Modelle könne Querempfindlichkeiten bis zu einem gewissen Grade ausgleichen. Es ist bisher aber nicht möglich ein einziges, universelles Modell für alle Prozesse zu entwickeln: Die Zusammensetzung bezüglich CSB, NOx und TS unterscheidet sich signifikant in der Nitrifikation und in der Denitrifikation und kann auch jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen sein.
Von der Theorie in die Praxis: Wie genau ist genau?
Als Messtechniklieferant können wir die Leistungsdaten der Messtechnik für definierte Substanzen oder Stoffgemische spezifizieren. Externe Einflüsse wie die Variabilität der Abwassermatrix erhöhen die Messunsicherheit, haben aber mit der Genauigkeit des Sensors an und für sich nichts zu tun. Ein Kaufentscheid rein anhand der technischen Spezifikationen macht darum für komplexe Online-Analysemesstechnik im Abwasser in vielen Fällen keinen Sinn.
Markus Vock vom AIB setzte die optische Nitratsonde darum zuerst im Labor ein: Er analysierte damit Proben aus der Biologie und verglich die Daten mit den Resultaten der Küvetten Tests. So entwickelte er schnell ein Gefühl für die Eigenheiten des Sensors. Zudem erlaubten die kontrollierten Bedingungen im Labor externe Störfaktoren auszuschliessen (z.B. räumliche Gradienten im Becken, Verschmutzung der Messfenster etc.).
Solche Vergleichstests im Labormassstab setzen einiges an Fachwissen und Erfahrung voraus: Die Probenahmetechnik ist entscheidend, ansonsten können ungewollt Artefakte produziert werden (so ist beispielsweise die Nitratkonzentration zu Beginn des SBR-Zyklus nicht stabil, da der Belebtschlamm unter Sauerstoffausschluss mit Rohabwasser in Kontakt kommt).
Herantasten an das neue Regelkonzept
In einem nächsten Schritt installierte das AIB die beiden Systeme im SBR-Becken 1 und zeichnete die Daten auf dem Leitsystem auf. Die Datenaufzeichnung erlaubte es dem AIB praktische Erfahrungen zur automatischen Reinigung mit Luft und dem Wartungsaufwand zu sammeln. In dieser Testphase zeigte sich, dass die Einbaulage und Eintauchtiefe der optischen Sonde ebenfalls einen Einfluss auf den Messwert haben (die Ursachen konnten wir bisher noch nicht vollständig klären).

Anhand einer Zyklusanalyse der Daten zeigte Nicolas Stöcklin, dass eine Regelung über den Nitrat-Gradienten grundsätzlich möglich ist.
Vor allem die ISE zeichnete sich durch ein sehr ruhiges und stabiles Signal aus – ideal für die Berechnung des Gradienten. Das Signal der optischen Messung war unruhiger und zeigte immer mal wieder kurzzeitige Ausreisser (vermutlich aufgrund von einzelnen Schlammflocken oder Luftblasen im Messschlitz). Eine Reduktion der Blitzfrequenz und eine Dämpfung des Signales brachte hier eine leichte Verbesserung.
Wie gut ist Gut?
Trotz der guten Messperformance und der tieferen Anschaffungskosten verwarf das AIB die Verwendung der ISE aufgrund des Wartungsaufwandes: Die Kosten für Verschleissteile und der Kalibrieraufwand für die ISE fallen wesentlich höher aus als für die optische Messung. Denn der Versuch hatte gezeigt, dass das Signal der optischen Messung ausreicht, um das Konzept der Gradientenregelung umzusetzen.
Mit dem so gewonnen Wissen entschied sich das AIB für die nächste Phase der Pilotierung. Gemeinsam mit dem Steuerungslieferanten Chestonag implementierte das AIB das Regelkonzept zunächst im SBR-Becken 1 und schliesslich in allen SBR-Reaktoren (inklusive der Beschaffung von insgesamt fünf Sensoren).
Wenig zusätzlicher Wartungsaufwand bei besserer Performance
Das Regelkonzept hat sich in der Praxis bewährt:
- Vorgeschaltete Denitrifikation: Die ARA Birs erreicht eine Stickstoffelimination von ca. 80% (Anforderung >70%)
- Die Anzahl Ammoniumspitzen im Auslauf haben dank der bedarfsgerechten Regelung massiv abgenommen
- Der Wartungsaufwand für die Online-Analytik konnte stark reduziert werden: Aktuell werden die Sensoren 1x pro Woche manuell gereinigt und bei Bedarf monatlich mit einer einfachen Offset-Kalibration nachjustiert
Diese Resultate wurden nicht dank, sondern MIT dem Einsatz der Sensoren CAS51D Viomax erzielt.
Das optimale Messgerät
Mit dem hier skizzierten schrittweisen Vorgehen können offene Fragen systematisch und schrittweise abgearbeitet werden. Überlegungsfehler und Kinderkrankheiten werden früh erkannt und können vor einer definitiven Implementierung ohne Zeitdruck behoben werden. Das Risiko ist so für den Anlagenbetreiber und die beteiligten Lieferanten reduziert.
Aufgrund des intensiven Austauschs mit dem AIB haben wir von Endress+Hauser einen tieferen Einblick in die aktuellen und künftigen Ansprüche in der Abwasserreinigung erhalten. Solche Erkenntnisse fliessen direkt in die Weiterentwicklung der Sensoren mit ein.
Zudem zeigt sich, dass sich die Ansprüche in der Abwasserbranche an Messtechnik-Lieferanten in einem starken Wandel befinden: Die Kunden erwarten inzwischen weit mehr als nur das pünktliche Ausliefern eines technisch einwandfrei funktionierenden Messgerätes, nämlich eine aktive Beteiligung an der Erarbeitung von massgeschneiderten Lösungen. Denn „beste Messgerät“ gibt es nicht, sehr wohl aber das optimale Messgerät.
Ein herzliches Dankeschön an Nicolas Stöcklin und Markus Vock vom AIB für die fundierten Auskünfte und das Redigieren des Textes. Das AIB hat zur Gradientenregelung einen ausführlichen Fachartikel in Aqua & Gas publiziert.
Autor: Stefan Vogel